In welcher Welt lebe ich? Was ist meine Realität?
Das Yoga der modernen Zeit
Wie im letzten Inspirationsletter geschrieben stammt das klassische Tantra aus der Zeit 600 n. Chr und fand seine Blüte um ca. 1200. Ausgehend von Kashmir verbreitete es sich nach Nepal, Bhutan und Bali.
Tantra sind einerseits alte Texte, als auch eine spirituelle Praxis sowie ein Instrument, um sich auszudehnen. Damit ist nicht das Neo-Tantra gemeint, das Anfang des 20. Jahrhundert als eigene Form mit dem Fokus auf Sexualität von Osho verbreitet wurde. Es ist eine Yoga-Praxis, die lebensbejahend und körperlich ist.
Wir praktizieren mit unserem Körper und Verstand. De Körper ist ein Spiegel unserer Emotionen, über den Körper öffnen wir uns, spüren Ängste, Ungeduld, Wut. Die Praxis dazu ist Anusara Yoga, wobei – neben den Asanas, Pranayama und Meditation – ein Herzthema die Verbindung zwischen tantrischer Lehre und dem Alltag herstellt.
Die Herzthemen speisen sich aus den verschiedenen Bewusstseinsebenen. Je nach Entwicklungsstand haben wir unterschiedliche Erfahrungen in der Welt gemacht, stehen auf unterschiedlichen Ebenen und leben in unterschiedlichen Realitäten.
Die 36 Prinzipien der Tantra-Realität
Diese Ebenen oder Prinzipien (Tattvas) sind wie ein Katalog der verschiedenen Bewusstseinsebenen. Sie sind ein Konstrukt, um uns bewusst zu machen, auf wie vielen verschiedenen Ebenen wir leben. Ähnlich der Bedürfnishierarchie von Maslow beginnt diese Kosmologie auf der materiellen/grobstofflichen Ebene und arbeitet sich hoch zu den feinstofflichen Elementen. Die 36 Prinzipien sind:
- physische Tattvas: die 5 Elemente der Materie (Erde, Wasser, Feuer, Wind, Raum), die Handlungsorgane (Mund, Hände, Füße, Genitalien, Gedärme), die Sinnesorgane (Nase, Zunge, Augen, Haut, Ohren) und die entsprechenden subtilen Elemente (Geruch, Geschmack, Form, Berührung, Klang).
- mentale Ebene: Verarbeitung von Sinnes- und Mental-Eindrücken, Intellekt
- psychische Tattvas: Ausdehnung von Ort und Zeit sowie die Auflösung von Sehnsüchten, begrenztem Wissen und begrenzter Handlungsmacht
Haben wir erkannt, dass diese o.e. Welten nur scheinbar real sind, durchbrechen wir den Schleier der Unwissenheit (Maya) und gelangen auf weitere Bewusstseinsebenen (Tantra fügt dem System von Patanjali also noch 11 Prinzipien hinzu):
- universelle Realität mit den absoluten Tattvas: absolutes Handeln, Wissen und Wollen führen zur Verbindung von der schöpferischen Kraft und dem höheren Bewusstsein und somit zur perfekten Einheit. Wir wissen nun, dass die Welt nicht aus Teilen bzw Gegensätzen besteht (dual), sondern das alles zusammengehört, sich beeinflusst und universell (non-dual) ist. Ein großer Kosmos – jedes Tun, jedes Wort, jeder Gedanke hat Auswirkungen, weil alles verbunden ist.
In unseren kommenden Yogakursen werden wir uns mit den Tattvas beschäftigen und sie als roten Faden für unsere Asana-, Atem- und Meditationspraxis nützen.
Wie sehe ich die Welt?
Die Welt, wie wir sie mit den Sinnesorganen wahrnehmen, ist gefärbt/verändert/nicht real – sie ist nur eine individuelle Realität. Wenn ich meinen Reisepartner frage, was er auf unserer gemeinsamen Reise gesehen, gehört, gerochen, geschmeckt, erfühlt hat, wird er andere Eindrücke widergeben als ich. Es wird klar, warum jeder Mensch seine Sicht (seine Wahrheit) hat, was wiederum Verständnis für das Verhalten unserer Mitmenschen fördert und unseren Blick auf die Vielfalt und Großartigkeit des Universums weitet.
Hinter meiner relativen Realität verbirgt sich also etwas Größeres, eine absolute Realität, eine höhere Kraft. Wenn es mir (mit Hilfe von Yoga) gelingt, zu Zeit und Raum auf Distanz zu gehen, stellen sich Ehrfurcht, Staunen und Gelassenheit gegenüber den Kleinigkeiten des Alltags ein. Seelenfrieden und Glückseligkeit sind die Belohnung.
Praxis mit den Tattvas
Laut tantrischer Kosmologie gehört zum Leben alles: Gut und Böse, Erde & Himmel, Sinne und Gedanken, Genuss und Reduktion, Freude & Verzweiflung. Alle sind Teile unserer Realität. Wenn wir die Realität als großes Ganzes sehen fällt es uns leichter, friedlich zu leben. Am Gipfel der Erkenntnis verschmelzen die einzelnen Tattvas zum Herz von Shiva & Shakti und wir sind im Einklang mit unserem Selbst.
Wie komme ich zu dieser Ausgeglichenheit?
Durch Innehalten und Innenschau auf das Selbst, diesen tiefsten innersten Kern in mir, der sich – im Gegensatz zu den äußeren Elementen – nie verändert:
- Am Morgen werde ich munter, bleibe aber mit geschlossenen Augen noch im Bett einen Moment liegen. Ich spüre in mich hinein. Dieses Selbst ist da, noch ganz rein, es ist noch nicht beeinflusst von irgendwelchen Gedanken zum kommenden Tag. Es schwebt noch zwischen Schlaf und Wachheit in seiner stillen Kraft und Freude. Es bleibt in mir verankert, wenn ich nun in die Welt hinaustrete.
- Bevor ich meine Yogapraxis auf der Matte beginne, gibt es auch dieses Innehalten und Hineinspüren. Was ist gerade in mir da? Gibt es irgendwo eine stille Kraft, die sich jetzt zeigt? Ein Ort des inneren Friedens, wo ich mir selbst ganz nahe bin? Von diesem Punkt aus gehe ich dann instinktiv in die Praxis.
- Im Alltag zwischen den Gedanken, zwischen den Aktionen mache ich eine Pause. Ich schaue hinein zu meiner Seele, die immer schon da war und mit mir sprechen möchte, mir versucht, den Weg zu weisen. Was ist hilfreich für mich? Sie weiß es! Meine Intuition darf mich nun zur nächsten Handlung / zum nächsten Wort führen.
- Insbesondere, wenn ich gefordert bin, weil ich emotional getriggert werde, atme ich einmal tief aus und stoppe mich, werde wieder ruhiger. Dann erst agiere ich BEWUSST aus meinem tiefen inneren Frieden (statt sofort zu reagieren und andere zu verletzen oder mich selbst in eine Situation zu bringen, die mir danach leid tut).
Ein Kreislauf der Höhen und Tiefen
Eine weitere Hilfe aus der tantrischen Praxis ist, sich bewusst zu machen, dass alles ein Kreislauf ist. Das System der 5 Handlungskräfte erklärt, dass
- alles zuerst geschaffen wird (Kreation),
- dann eine Zeit lang existiert (Erhaltung),
- um sich irgendwann aufzulösen (Auflösung),
- dann ins Chaos fällt (Ratlosigkeit, Zweifel),
- bevor wieder neue Ideen entstehen (Fülle), woraus wieder Neues geschaffen wird …
Was heißt das für mich im Alltag? Bin ich traurig, in einem Tief, also völlig aufgelöst und planlos, kann ich mir sicher sein, dass daraus wieder Fülle, Kreativität, Schönheit, Glücksgefühl und Frieden entstehen.
Dieses Gesetz des Kreislaufs existiert im Mikrokosmos meiner Zellen oder meiner Atmung genauso wie im Makrokosmos des Weltgeschehens oder der universellen Schöpfung.
Eine Sichtweise, die zu Frieden führt
Wenn ich diese Sicht habe, brauche ich mir nicht mehr verklärt die Vergangenheit herbeiwünschen oder Sorgen um die Zukunft machen. Ich kann friedlich in diesem Augenblick verweilen und aus dieser Ruhe heraus handeln, denn ich weiß, dass alles ein Kreislauf ist. Das bedeutet nicht, dass ich schicksalsergeben dem Weltenlauf zusehe, sondern mich den Dingen gelassener zuwende und mit weniger Aufregung handle.
Die Welt um mich herum wird friedlicher, indem ich aus meinem Frieden heraus agiere. Vielleicht ist das die Antwort, wie wir aus dem aktuellen Weltenlauf wieder in geordnete Bahnen und ein liebevolles Miteinander kommen können.
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